Mutter + Tante

Vergiftete Familienverhältnisse: Das Theaterstück „Mutter + Tante“

Eine Rezension von Jens-Philipp Gründler

„Aus dem Nichts kam ein erbärmlicher Geruch. Es stank nach Ammoniak und Schwefel. Das Scharren an der Tür wurde lauter. Leise Stimmen erfüllten den Raum.“ Mit einem infernalischen Prolog lassen die Autor(inn)en Antje Hampe und Rüdiger Heins ihr Theaterstück Mutter + Tante. Die Geschichte einer Vergiftung beginnen und geben den Takt vor, der die Rezipienten in seinen Bann zieht. „Die Angst floss in mich hinein“, spricht das von Mutter und Tante einst sexuell missbrauchte Kind und beschreibt damit seinen Gang durch die Hölle. Fesselnde, knappe Sätze machen den eigenwilligen Stil von Hampes und Heins´ Stück aus, um einen Abscheu und Ekel hervorrufenden Sachverhalt darzulegen.

„Kind“, ein sechsjähriger Junge, wird sowohl von seiner Tante als auch von seiner Mutter misshandelt und missbraucht: „Die Nachmittage verbrachte ich bei meiner Tante und nachts schlief ich bei meiner Mutter.“ Nachdem die Tante starb, als das Kind zehn Jahre alt war, hatte es noch weitere acht Jahre im Bett der Mutter zu verbringen. Danach studiert der Junge Kunst und wird freischaffender Maler. Im Alter von dreißig Jahren gibt er in einem Gefängnis lebenslänglich inhaftierten Straftätern Malunterricht. Hierbei lernt er den Gefangenen Peter Bensdorf kennen, der seine Tante, die ihn sexuell missbrauchte, im Erwachsenenalter umbringt. Aus Scham verschweigt der Mörder die Gründe seiner Tat vor Gericht, teilt sie aber Kind mit. Erst zu diesem Zeitpunkt erkennt Kind, dass seine Kindheit alles andere als „normal“ verlief und begibt sich – erfolglos – in Therapie. Als Kind seine Partnerin kennenlernt, und sich ihr öffnet, beginnt allmählich der Heilungsprozess. Kind drückt seine grauenhaften Erfahrungen in der Malerei aus und wird so von dem Albdruck erleichert.

Die Autor(inn)en schildern in einer an den Existentialismus erinnernden, reduzierten Sprache die Geschichte eines Missbrauchs von Frauen an einem Jungen. Auf diese Weise verleihen Hampe, die neben ihrer Tätigkeit als Lyrikerin und Essayistin auch als Psychotherapeutin arbeitet, und Heins, eXperimenta-Herausgeber, Regisseur und Urheber verschiedener Romane, Gedichte und Theaterstücke, dem Unfassbaren eine das Publikum in Atem haltende, dramatische Form. Auf Spurensuche begibt sich das Autorenduo, in ein Labyrinth des Unsagbaren, wo das Geschehene auch Jahrzehnte später nachwirkt und Schaden anrichtet. So minimalistisch die Dialoge ausfallen, so drastisch sind sie auch durchwirkt von Verachtung, Ridikülisierung und Niedertracht. Mutter und Tante sprechen die desperate Sprache des Hasses und der Bedrängnis, beschimpfen einander sowie das Kind. Auf diesen Jungen erheben beide Seiten einen radikalen Anspruch, der an Sklavenhaltung grenzt: „Das ist mein Junge“, heißt es von Seiten der Mutter, „er gehört mir ganz allein. Das ist mein Eigentum, der gehört mir.“ Beide Frauenfiguren sind charakterisiert durch Primitivität, Amoralität und tierische Triebhaftigkeit. So wünscht sich das Kind eine Coca-Cola, doch die Tante fragt: „Möchtest du, dass ich rein spucke?“ Sadistisch ergänzt die kaltherzige Frau: „Trink nur, das wird dir schmecken.“ Mit gelegentlich grenzwertigem Ekel operiert das Autorenduo auf meisterhafte Weise, um die ohnehin schon offenliegenden Abgründe von Mutter und Tante mithilfe von Unflätigem zu unterstreichen. Tatsächlich definieren Hampe und Heins das Abstoßende an den zwei Frauenfiguren nicht allein über ihr Verhalten dem Kind gegenüber, sondern auch über ihre Wortwahl und die defätistische Geisteshaltung. Es fallen harte, im Kontrast zu den eher sanftmütigen Monologen des erwachsenen Kindes stehende Worte.

Immer wieder wird auch die Figur des Vaters in Erinnerung gerufen, die aus dem Off heraus spricht, dabei aber ausschließlich Skat zu spielen scheint: „18? 20? 22?… weg!“ Die Stimme des erwachsen gewordenen Kindes vernehmen wir ebenfalls aus dem Off:„Für meinen Vater existierte ich nicht… Als ich zwei Jahre alt war, verließ er mich.“ Der Vater sei einfach weg gewesen, so das Kind als Erwachsener. Zu seiner Entschuldigung habe er nur ein Wort gesagt: „Skat.“ Über das Telefon führen Vater und Kind einen gebrochenen, einseitigen Dialog, im Grunde zwei getrennte Monologe. Denn der Vater hält sich an die für Skat typische Terminologie, beim sogenannten Reizen, einer Art Punktauktion, bei der der Höchstbietende das Spiel als Solist, oder Alleinspieler, spielt: „30? 33? 36?“ Autistisch anmutend klammert sich der Erzeuger des Kindes sklavisch an die Skat-Sprache, wohingegen Kind wieder und wieder auf seine fundamentale Angst hinweist, aber auch von seiner Wirkung auf die Frauen kündet: „Ich war schon immer einsam und ich werde immer einsam sein. Diese Einsamkeit zieht Frauen an.“

Tante und Mutter bestrafen das Kind für Untaten, die eigentlich auf ihr eigenes Konto gehen. So lässt die Tante paradoxerweise ein glühendes Streichholz auf den Rücken des Kindes fallen: „Ich bestrafe dich, bestrafe dich.“ Anhand dieser seitenverkehrten Züchtigung verleiht die Tante ihrer eigenen Schuldigkeit Ausdruck. Stolz auf das Kind sind Mutter und Tante, als es die Scheune abfackelt. Sie freuen sich über die „riesige Menschenmasse“ und führen sogar lachend einen Paartanz auf der Bühne auf. Mittels einer Trillerpfeife wird das Publikum aufgerüttelt. Der Junge will nämlich mit seiner Ritterburg spielen, was die Tante nicht akzeptiert. Sie bläst in die Pfeife und schreit das Kind an. Da wird das Ritterspiel zum Symbol für den Missbrauch, drückt das Kind sich doch auf diesem Wege aus: „Ich muss doch die Burg verteidigen. Gegen die feindlichen Angreifer.“

Die Misshandlungen erreichen ihre Klimax, als die Mutter ihren Sohn in ein kaltes, dunkles Loch steckt: „Das hast du verdient, da unten in diesem Loch zu verrotten.“ Obwohl sich das Kind im Kerker quält, bleibt es doch lieber dort, als, wie die Mutter androht, ins Kinderheim zu gehen: „Ich will nicht ins Heim.“ Über eine Dekade später legt Kind rückblickend dar, wie es die dunklen Jahre mithilfe seiner Kunst verarbeitete: „Ich bin ein guter Künstler. Mit der Kunst spinne ich das Netz und lege meinen Nektar aus. Meine Beute wickle ich in einen Kokon. Sie ist betäubt und ihr Erwachen aus diesem Rausch ist das Grauen.“ Elemente des absurden Theaters kommen mehrfach zum Tragen, etwa als Mutter und Tante mit Kochlöffeln auf das unsichtbare Kind einprügeln. Ein an Brecht´sche Verfremdung erinnernder Effekt, der indianische Gesang des Kindes aus dem Off, wird zwischen den Dialogen wiederholt und sorgt für eine Distanz zum Geschehen. Eine solche ist auch bitter nötig, da das finstere Szenario für die Zuschauer manchmal nur schwer zu ertragen ist. Negativität in konzentrierter Form wird zum Stilmittel, um die Ausmaße des vom Kind erlebten Horrors in Sprache zu kleiden.

Hampe und Heins widmen sich in ihrem Stück einem Tabuthema, wobei es ihnen gelingt, eine authentische und zugleich mitreißende Sprachform zu erschaffen, einen ganz eigenen Stil, der dennoch an die großen Dramatiker, wie Bertolt Brecht, Heiner Müller oder Samuel Beckett gemahnt. Indem die Autor(inn)en ein dermaßen tabuisiertes Sujet wählen, beweisen sie Mut und kreieren eine den unfassbaren Ereignissen angemessene Atmosphäre, geprägt von Ausweglosigkeit. Psychotherapie allein genügt nicht, um Kind von seinen Ängsten zu befreien: „Nachdem mir klar wurde, dass meine Kindheit keine war, verschwand ich jahrelang in der Psychotherapie. Ich sollte das Grab meiner Tante aufsuchen, um ihr zu verzeihen. Am Wegesrand sah ich einen Stapel mit spitzen Holzstäben liegen. Ich wollte ihr die Stange mitten durch den Körper bohren.“ Das Opfer entkommt dem familiären Teufelskreis schließlich, als es sich anhand der Mittel der bildenden Kunst neu gebiert: „Aber ich bin wiedergeboren.“ Eine derartige Feststellung gibt den Rezipienten Anlass zur Hoffnung auf ein Happy End, welches wünschenswert erscheint, nachdem sie die Höllenfahrt des Kindes miterlebten. Und tatsächlich findet mit der Wiedergeburt eine Katharsis, eine Läuterung statt. Allerdings bleibt das hochwirksame Gift in Körper und Seele des Wiedergeborenen aktiv, nach umfassender Erlösung suchen die Zuschauer vergebens. Aber gerade diese pastose Schwarzmalerei macht Hampes und Heins´ Theaterstück aus, denn die Vergiftung ist nicht rückgängig zu machen. Dennoch sehnen sich die im Publikum sitzenden Zeugen des Geschehens danach, das über die Maßen geprüfte und gequälte Kind endlich rundum glücklich zu sehen. Vermittels seines künstlerischen Schaffens, des einzig verlässlichen Gegengiftes, wird es das schließlich auch, zumindest partiell.

 

Ein Stück von Antje Hampe und Rüdiger Heins

edition maya

9,80 €

ISBN: 978-3-930758-53-1

 

Veröffentlicht von:

INKAS INstitut für KreAtives Schreiben

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