Der Zauber einer Vollmondnacht

Noch war die Sonne nicht untergegangen, doch schon färbte sich der Himmel rot und bot ein wunderbares Schauspiel.
„Ist das toll!“, entfuhr es Betty. Das war es wirklich, atemberaubend. Die Terrasse war festlich mit Lampions geschmückt, es gab Kuschelecken mit niedrigen Tischen, gemütlichen Sofas und weichen Kissen, aber auch Essecken mit Stühlen. Überall tummelten sich Gäste, die ich zuvor nicht gesehen hatte. Noch fehlten die Vampire. Betty schien enttäuscht.
„Dein Galan kommt erst nach Sonnenuntergang“, raunte ich ihr boshaft ins Ohr, während wir uns auf einem der Sofas niederließen.
Ghulkinder liefen umher, anscheinend waren viele Ghule unter den Gästen heute Abend. Damien saß bei einer Familie, die ich nicht kannte und schmauste mit deren Kindern um die Wette. Auf dem Tisch prangte eine große Sahnetorte.
‚Eine Koboldfamilie‘, mutmaßte ich und betrachtete sie eingehender. Sie waren rundlicher und kleiner als die Ghule, hatten aber das gleiche dunkle Haar und ebenso kohleschwarze Augen. Auch die Essmanieren waren ähnlich, man nahm die Hände und schmatzte genüsslich beim Kauen. Nur bevorzugten diese kleinen Wesen, die die Natur und den Wald über alles liebten, süße Speisen und Obst.
Jeremias betätigte den Grill, auf dem verlockend duftende Fleischspießchen vor sich hin brutzelten. Auf der einen Seite war ein riesiges Büffet mit Köstlichkeiten aller Art aufgebaut: Kuchen, Pasteten mit Fleisch- oder Obstfüllung, Süßspeisen, Salate, Aufläufe und Erfrischungsgetränke.
Die Ghule hielten sich an das Fleisch. Vom Nebentisch hörte ich einen von ihnen sagen: „Es ist zwar noch nicht ganz reif, aber es schmeckt delikat.“ Anerkennend betrachtete er den Hammelspieß, bevor er ihm mit seinen klauenartigen Fingern zu Leibe rückte.
Mein Blick wanderte weiter und blieb an der Familie mit den beiden Mädchen hängen. Yvonne fehlte, sie saßen nur zu dritt am Tisch. Ich zuckte die Schultern, sicher war die Kleine hier irgendwo.

Auf einmal gingen die Lampions wie von Zauberhand an. Die Sonne versank und machte einem riesigen Vollmond Platz, der scheinbar direkt über der Dachterrasse hing. Ein Tusch und Konstanze erhob sich feierlich.
„Verehrte Gäste, ich möchte Sie herzlich zu unserer kleinen Vollmondparty willkommen heißen. Das Luhg Holiday ist ja für besondere Überraschungen und Events bekannt. Wir werden Sie auch heute Nacht nicht enttäuschen.“
Applaus, der nicht abebben wollte. Durch den Vorhang kamen sie, die Vampire. Stolz in ihren schwarzen Umhängen, allen voran Graf von Drachenfels. Ich fühlte, wie Betty neben mir erbebte. Doch es waren viele, mindestens dreißig, schätzte ich.
Erasmus ließ die Geige erschluchzen, und tief und dunkel erklang die volle Stimme Konstanzes. Melancholisch, lockend, versprechend und geheimnisvoll schallte das Lied in die Vollmondnacht, und mir lief ein Schauder über den Rücken.
Jetzt spielte die Musik mal wild, mal fast zärtlich. Paare tanzten dazu, Kinder wirbelten bunt durcheinander. Karaffen mit rot funkelndem Wein wurden herumgereicht. War es Wein? Ich wollte dem heute lieber nicht auf den Grund gehen. Betty trank schon viel zu viel davon und warf schmachtende Blicke zum Tisch des Grafen hinüber.
„Liebes, sollten wir nicht mal nach Yvonne schauen?“ Am Nebentisch erklang eine besorgte Stimme.
„Ach Bernd, ich bin mir sicher, dass sie schläft. Sie hat noch immer leichtes Fieber, aber es ging ihr schon viel besser vorhin“, kam es beruhigend zurück.
Yvonne war also krank. So verpasste sie den schönen Abend. Noch jemand fehlte. Vergebens suchte ich ein kleines feuerrotes Köpfchen. Ob Oliver auch krank war? Blass genug hatte er ja ausgesehen. ‚Blödsinn, er ist ein Vampir, er muss so aussehen“, rief ich mich zur Ordnung. Ich sah sinnierend zum Grafen hinüber, und unsere Blicke kreuzten sich. Es durchfuhr mich wie heißes Eisen. Wankend stand ich auf, als er auf unseren Tisch zukam und sich vor mir verneigte. Ich war benommen, sah nicht den Schock und die Enttäuschung in Bettys Augen, als er mich zum Tanz führte.
War es ein Traum? Ich tauchte in das Gold seiner Augen.
„Du gehörst zu mir, ich wusste es von Anfang an“, raunte er mir ins Ohr. Viel zu nah kamen seine Lippen. In Gedanken sah ich spitze weiße Zähne, Blut.
„Werde eine von uns, werde mein“, dröhnte es in meinem Kopf.
„Ich …“, willenlos hing ich in seinen Armen.
Da zerriss ein Schrei die Klänge der Musik. Auf einmal herrschte Totenstille.
Dann ein Heulen, durchdringend, anklagend.
„Dimitri!“ Mit einem Ruck machte ich mich los. Das war Dimitri, wie damals in jener Nacht. Doch diesmal war es ernst. Er brauchte mich. Was tat ich hier eigentlich?!
Der Zauber war gebrochen. Wütend funkelte ich den Grafen an. Der trat einen Schritt zurück.
„Ich habe verloren“, sagte er leise. Galant verließ er die Bühne, in dem Wissen, dass sein Akt vorbei war. Er hatte keine Macht mehr über mich.
Ich raste die Marmorstufen hinab, durch den Raum, den Korridor entlang und die Treppe hinunter, gefolgt von Hotelgästen: Menschen, Ghulen, Kobolden und Vampiren.
„Sie ist nicht in ihrem Zimmer!“, kreischte es plötzlich hysterisch hinter mir.
Ich rannte weiter, nur raus, so schnell wie möglich. Das Heulen kam aus dem Wald. Den Grafen dicht auf den Fersen stolperte ich die Böschung hoch. Und da sah ich ihn: Einen riesigen Wolf, der sich auf die Hinterläufe erhoben hatte und den Mond anheulte. Ich raste auf ihn zu.
„Nein“, befahl Graf von Drachenfels, doch er konnte mich nicht stoppen. Nichts konnte mich jetzt halten.
Fast hatte ich ihn erreicht, da kam er drohend auf mich zu.
„Dimitri“, lockte ich ihn gurrend. „Dimitri, ich bin es.“
Der Wolf schien zu zaudern. Jetzt erst entdeckte ich das zitternde Mädchen, das verängstigt am Boden kauerte.
„Yvonne, komm ganz langsam zu mir“, rief ich ihr zu, doch das Mädel war starr vor Angst und rührte sich nicht.
Hinter mir erklang lautes Schluchzen. „Oh Yvonne, warum habe ich dich allein gelassen?“
Ich trat noch einen Schritt auf Dimitri zu. Der Wolf rollte mit den Augen und knurrte leise. Verzweifelt sah ich zum Mond hinauf, die Nacht war noch lang.
„Dimitri, erinnerst du dich an den Regen?“ Er sträubte das Nackenfell, dennoch legte er den Kopf zur Seite, als ob er lauschen würde.
„Ich war Rotkäppchen. Du hast mich gefangen. Schau, ich bin jetzt bei dir, lass das Mädchen gehen.“
Sanft sprach ich und lockend. Dabei sah ich ihm fest in die Augen, aus denen langsam das Wilde wich. Ich glaubte einen Schimmer von Erinnerung in ihnen zu erkennen.
„Du bist Dimitri, Student der Medizin. Wir haben viele Pläne, weißt du noch?“
Er ließ sich auf vier Pfoten nieder und sah mich unverwandt an. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und berührte ihn. Ein Beben durchfuhr seinen Körper.
„Du brauchst keine Angst zu haben, niemand tut dir was. Es sind alles Freunde“, beruhigte ich ihn.
Dann fiel mir etwas ein.
„Du bist kein Werwolf, denn ich kenne deinen Namen, Dimitri! Ich muss nicht fragen, wer der Wolf ist. Er heißt Dimitri.“
Argwöhnisch sah er mich an, dann gab er ein erstauntes Geräusch von sich, entspannte sich und trottete neben mir her zum Luhg Holiday.
Hinter uns ging ein Raunen durch die Menge, und die Eltern schlossen die zitternde Yvonne in ihre Arme …

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©byChristine Erdic

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Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
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