Einen von der Geschichte geprägten Lebensweg in Romanform mitbegleiten

Eine Rezension von Maria Werthan

Nach dem Tod ihres Vaters wurde Jana klar, dass sie zu wenig über ihren Vater wusste. Sie nutzte die Zeit zur Vorbereitung der Beerdigung, um mit Familienmitgliedern und Freunden über ihren Vater zu reden. Auch alle seine Unterlagen aus seiner Zeit bei der Wehrmacht zog sie hinzu. Sie wollte wissen: Hatte ihr Vater Schuld auf sich geladen oder bewahrten ihn seine Plattfüße vor mörderischen Bombeneinsätzen?

Wenn sie ihre Erinnerungen Revue passieren ließ, schmuste die kleine Jana am Sonntag vergnügt mit dem Papa im Familienbett. Doch sobald der Stammhalter geboren wurde, hatte Papa keine Zeit mehr für sie. Die Ungleichbehandlung der Kinder wirkte sich auch auf die Beziehung der Geschwister aus. Sie durfte den Vater bei der Versorgung der Haustiere unterstützen, ihm den Henkelmann zur Arbeit bringen, gute Leistungen in der Schule zeigen – aber alles ohne die ersehnte Anerkennung von ihm. Janas Wunsch nach Bildung lehnte er ab. Trost und Geborgenheit fand sie bei den Großeltern mütterlicherseits. Ihr Vorbild blieb Mutters Bruder Niki, der studiert hatte und ihren Bildungshunger verstand.

Jana startete immer neue Versuche, das Wesen des verschlossenen Vaters zu erfassen. Dabei fügte sie wie bei einem Puzzle ein Teil zum anderen, um sich ein Bild von ihm zu machen. Sie wollte verstehen, warum er sie benachteiligt hatte.  Aus Angst vor der Gesellenprüfung als Elektriker meldete sich der große, dunkelhaarige, blauäugige Mann mit der schönen Schrift bei der Wehrmacht und stieg zum Feldwebel auf. Nach dem Krieg heuerte er als Bergmann an, um seine Familie ernähren zu können. Er überlebte das Grubenunglück von Grimberg, wurde sehr schweigsam und fand besser bezahlte Arbeitsstellen. Er selber bezeichnete sich als unpolitisch, war fest verankert im sozialdemokratischen Arbeitermilieu und hatte große Animositäten gegen die politischen Eliten im protestantischen Berlin. Berlin setzte er mit Sibirien gleich. Woher rührte die tiefe Schweigsamkeit, die sich nur nach Alkoholkonsum löste? War es die Last des Nachkriegslebens, das Trauma eines überlebten Krieges und eines Grubenunglücks oder die Kindheit in Strenge und Lieblosigkeit? Was hatte sich im Leben der Eltern zugetragen, während Jana mit der Mutter auf der Flucht aus Böhmen in den Westen war und der Vater nach der Gefangenschaft wieder in den Schoß der rheinischen Familie zurückgekehrt war?

Als Jana und ihre Mutter im Rheinland landeten, waren sie als zusätzliche Esser in Notzeiten nicht willkommen. Die Mutter war stets darauf bedacht, mitzuverdienen und den Dialekt zu lernen, um sich zu integrieren. Doch das Gefühl nicht dazu zu gehören, begleitete sie zeitlebens. Noch im Alter hörte Jana sie in einer fremden Sprache träumen. Jana als evangelisches, rothaariges Flüchtlingsmädchen (Pimmock) im katholischen Rheinland wurde regelmäßig auf dem Schulweg verprügelt. Sie suchte Halt im Glauben, las gerne, lernte sich zu verteidigen und eigene Wege zu gehen.

Nach dem Abschluss der Ausbildung als Steuerfachkraft ließ Jana sich für ein Jahr nach Westberlin abwerben, um der heimischen Enge zu entkommen und die große, weite Welt zu erkunden. Ihr sozialdemokratisch angehauchter Widerspruchsgeist fand Anklang in der 68er Bewegung. Doch durch das Eintauchen in die Welt der Protestler ließ sie sich ihren Bildungshunger nicht abtrainieren. Sie arbeitete tagsüber in der linken Buchhandlung, druckte Plakate, demonstrierte, experimentierte mit der freien Liebe, beendete das Abendgymnasium und ihr Studium in Sinologie und Philosophie. Sie wurde erste Austauschstudentin in China, bekam aufgrund ihrer Qualifikation einen Lehrauftrag an der Freien Berliner Universität, der nicht für den Lebensunterhalt reichte. Den Unterhalt musste sie sich durch eine Anstellung in der Universitätsverwaltung dazuverdienen. Während sie zwischen den protestierenden Studenten und der Verwaltung vermittelte, geriet sie zwischen die Fronten. Sie besaß jedoch immer noch den Ehrgeiz, ein zusätzliches Studium der Kunstgeschichte zu absolvieren. Zudem war sie jung, wollte reisen, etwas erleben, liebte die Tripps nach Ostberlin für Kultur und Abenteuer. Nachts blieb sie immer länger bei einem Absacker hängen. Die Männer wechselten. Doch es gab auch Konstanten wie Thomas oder György, Vaters Freund, der sie gerne ehelichen wollte und damit die Eifersucht des Philosophieprofessors erregte. Bei diesen unvereinbaren, widersprüchlichen Anforderungen erschien der tägliche Griff zum Flachmann als Rettung. Jana trank immer mehr Alkohol, bis zum totalen Zusammenbruch und der Einlieferung in die Entzugsklinik.

Der Weg zurück in das Alltagsleben war schmerzhaft und langwierig. Die Frühpensionierung nutzte Jana, um das Studium der Kunstgeschichte zu absolvieren und über den Bildhauer Onkel und die Familiengeschichte im Riesengebirge zu recherchieren. Vielleicht könnte sie in ihrem Geburtsland Heimat finden? Vielleicht könnte sie dort mit Thomas alt werden? Oder bleibt ihr nur die Erinnerung an die sinnliche Massage in Prag?

Janas Lebensweg auf der Suche nach Heimat, nach Anerkennung und nach sich selbst ist in viele kleine, spannende, lebensechte Geschichten verpackt. Sie sind wie von unsichtbarer Hand gekonnt vermischt und zeichnen ein authentisches Lebensbild vor dem Hintergrund großer zeitgeschichtlicher Umbrüche im Rheinland, in Berlin und in Osteuropa. Die Nachkriegsgeschichte rahmt das Leben einer jungen Frau und ihrer Familie, deren Entstehen und Sein unlösbar mit Krieg und Vertreibung verbunden ist. Die Geschichten replizieren, wie unterschiedliche Milieus im Rheinland und in Berlin das Zeitgeschehen wahrnehmen. Sie sind laufend vernetzt mit dem Zeitgeschehen; beginnend mit der Aufarbeitung der Schuldfrage, den Studentenprotesten, der Friedensbewegung, dem Reaktorunfall in Tschernobyl, dem Besuch Reagans bei der 750Jahrfeier in Berlin, der Grenzöffnung in Ungarn bis nach dem Fall der Mauer. Ein flüssiger Erzählstil unterstützt durch eine klare, situationsadäquate Sprache katapultiert den Leser in immer neue Sequenzen eines außergewöhnlichen Lebens. Der Grundtenor des Buches ist nicht Wehmut, sondern vielmehr das trotzige, "trotz allem stark" eines traumatisierten Flüchtlingskindes. Diesen Lebensweg zu begleiten, macht das Buch zum Leseerlebnis.  

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