Wenn der Mensch sich verändert – Leben mit Demenz aus Sicht eines Pflegeexperten

Ein ehrlicher Fachbeitrag von Luis Kuhn, zertifizierter Demenzexperte, Pflegefachkraft und Pflegeberater (§ 7a SGB XI)

Wenn Erinnerungen verblassen und Beziehungen auf die Probe gestellt werden

Demenz ist nicht nur Vergesslichkeit. Sie ist ein schleichender Abschied – Tag für Tag ein Stück mehr. Und wer jemals einen demenzerkrankten Menschen begleitet hat, weiß: Es verändert alles.

Ich habe in den letzten Jahren viele Menschen mit Demenz gepflegt, beraten und erlebt – in all ihren Facetten. Und ich habe gesehen, dass keine Demenz wie die andere ist.
Es gibt die stillen Formen, bei denen das Gedächtnis langsam schwindet. Aber es gibt auch aggressive, unruhige, impulsive Verläufe – etwa bei einer frontotemporalen Demenz, wo sich die Persönlichkeit stark verändert.
Menschen, die früher zurückhaltend waren, verlieren plötzlich jede Scham, werden laut, fordern Nähe oder benehmen sich wie Kinder. Sie suchen ihre Mutter, rufen nach ihr, verlieren Orientierung, Sicherheit, Grenzen.

Das alles passiert nicht, weil sie wollen – es passiert, weil ihr Gehirn sich verändert. Und das ist das Schmerzhafte: Die Person, die man liebt, ist irgendwann nicht mehr dieselbe.
Sie lacht anders, reagiert anders, erkennt einen vielleicht nicht mehr. Sie verschwindet Stück für Stück – äußerlich vertraut, innerlich fremd.

Ich habe das auch selbst erlebt – mit meiner eigenen Großmutter.
 Im Laufe der Erkrankung wurde der Besuch oder Unternehmungen mit ihr immer anstrengender, nervenaufreibender und traurig zugleich.
Sie fragte alle zwei Minuten dasselbe, jammerte, war unruhig, manchmal wütend, manchmal kindlich. Und jedes Mal, wenn ich zur Tür kam, war da dieser Moment des Zweifelns: Kennt sie mich heute noch?
Sie hat mich bis zum Schluss erkannt – und doch nie wirklich gewusst, dass ich da war.

Das sind die Momente, die Angehörige zermürben.
Viele fühlen sich hilflos, überfordert, schuldig, weil sie manchmal keine Geduld mehr haben. Und das ist menschlich.

Was kaum jemand ausspricht: Demenz kann auch in Gewalt enden.
Nicht, weil Menschen böse sind – sondern weil sie emotional am Ende sind.
Pflegende Angehörige geraten in Situationen, die sie nie für möglich gehalten hätten.
Wenn der geliebte Mensch schlägt, beißt, tritt oder beschimpft – und man selbst völlig erschöpft ist, kann aus Verzweiflung Wut werden.

Im Pflegeheim erleben wir solche Situationen regelmäßig. Und zu Hause, ohne Unterstützung, ist die Gefahr noch größer.
Es entsteht ein Teufelskreis aus Überforderung, Scham, Angst und Schuld.

Darum ist es so wichtig, offen darüber zu sprechen – über Aggression, Überlastung und Gewalt in der Pflege.
Es darf kein Tabuthema sein. Niemand sollte so weit kommen, dass er nur noch funktioniert.
Hilfe zu suchen ist kein Versagen, sondern Selbstschutz.
Pflegeberatung, Entlastungsangebote, Betreuungsgruppen oder Tagespflege – all das sind Wege, um Druck zu nehmen.

Demenz ist eine Herausforderung. Aber sie ist auch eine Einladung, den Menschen dahinter neu zu sehen – ohne Erwartungen, ohne Vergangenheit, nur im Moment.
Die Krankheit nimmt Erinnerungen, aber sie lässt Gefühle. Und genau dort können wir anknüpfen – mit Nähe, Wärme, Musik, Berührung, Routine.

Und an alle Angehörigen: Ihr seid nicht allein.
Eure Erschöpfung, eure Wut, eure Trauer – sie sind echt und nachvollziehbar.
Aber genauso echt ist euer Einsatz, eure Liebe und euer Mut, jeden Tag weiterzumachen.