„Christen sollte das Vertrauen zuteilwerden, Glauben mit Rückgrat und ohne Korsett leben zu können!"
Angesichts der weiter rückläufigen Mitgliederzahlen in der Kirche hat sich auch der Philosophische Laienarbeitskreis mit dem Thema des Zustandes der christlichen Glaubensgemeinschaften befasst. Ihr Leiter, Dennis Riehle (Konstanz), erklärt dazu in einer Stellungnahme:
Ein Stück weit sind die Probleme hausgemacht. Während sich der Katholizismus mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beschäftigen muss, biedert sich der Protestantismus derzeit an eine aktivistische Zeitgeistigkeit an. Beide Konfessionen wenden sich damit von ihren Kernaufgaben wie der Liturgie, der Verkündigung, der Seelsorge oder der Diakonie ab. Dass sich die Kirche an die Lebenswirklichkeit in der westlichen Welt anpassen muss und die Überzeugung einer zentral gelenkten Weltanschauungsgemeinschaft nicht mehr in das 21. Jahrhundert passt, scheint unbestritten. Denn die Dynamiken, mit der sich die Ansprüche und Erwartungen der Schäfchen über den gesamten Globus entwickeln, sind derart unterschiedlich, dass man ein solches Gefüge nur zusammenhalten kann, wenn man den Ortsgemeinden mehr Autonomie zugesteht. Desgleichen braucht es eine verstärkte Glaubensfreiheit für den Einzelnen, der in mündiger Entscheidung darüber selbst befinden kann, inwieweit er der klerikalen Lehre einer Institution folgt. Es dürfte der Gegenwart nicht mehr angemessen sein, dass von der Kanzel herab diktiert und moralisiert wird. Stattdessen benötigen Christen die Befähigung zur persönlichen Exegese der biblischen Schrift, aber auch ein atmendes Gerüst, an dem sich jeder nach seinem Bedarf orientieren kann. Der Standpunkt, wonach es nur eine Wahrheit und eine Lesart der überlieferten Texte gibt, lässt sich heute nicht mehr halten. Viele Menschen verlassen die Kirche auch deshalb, weil sie das Korsett der Dogmatik nicht mehr ertragen können. Damit ist keinesfalls der Abfall vom trinitarischen Gottesglauben verbunden, ganz im Gegenteil. Noch immer sucht eine Mehrheit der Deutschen Hoffnung, Zuversicht und Sinn in der Überzeugung an einen Schöpfer und Lenker. Und auch das Bild von Jesus als sein Sohn und prägende Persönlichkeit in der Geschichte, an der man eine Nachfolge festmachen kann, bleibt weiterhin anerkannt. Ebenso ist das vermeintliche Interesse, sich eine Patchwork-Religion aus den verschiedenen Angeboten auf dem Markt der Glaubenssysteme nach eigenem Belieben zusammenzustellen, offenbar weniger von Bedeutung als vielfach angenommen. Denn wiederholt durchgeführte Umfragen lassen erkennen, dass die grundsätzliche Zuneigung zu den christlichen Wurzeln nicht abgebrochen ist – und generell ein hohes Bedürfnis besteht, ideell nicht ohne Fundament dazustehen. Allerdings bemängelt in einer säkularisierten Welt ein nicht unerheblicher Teil der konfessionell gebundenen oder freien Christen von heute, dass ihnen durch die Institutionen zu wenig Spielraum für eine Entwicklung individueller Überzeugungen gelassen wird. Das bedeutet nicht, dass sie sich nach Beliebigkeit sehnen. Viel eher erwarten sie, dass die Religion ihnen den Kompass in die Hand drückt, sie ihn dann aber selbst bedienen dürfen. Und auf diesem Instrument der Wegweisung sollten vor allem die wesentlichen Glaubenselemente aufgezeichnet sein, die zu verstehen die Kirche behilflich sein darf. Aber die Ausrichtung müssen Christen souverän vornehmen dürfen.
Insofern bedarf es einer Rückbesinnung auf die Anfänge und Grundlagen der Christenheit. Eine lebendige Auslegung der Bergpredigt, die es ermöglicht, sie praxisnah an den Alltag von heute anzulegen – und dabei ohne den erhobenen Zeigefinger auskommt, wäre hierfür ein geeignetes Beispiel. Auch eine Befassung mit der immer wieder auftauchenden Theodizée-Frage, auf die es eben keine einfachen und pauschalen Antworten gibt, wäre für die Menschen in Zeiten von Krisen, Katastrophen und existenziellen Nöten wichtiger als eine Solidarisierung mit einer Klimabewegung, die sich vom eigentlichen Ansinnen der Schöpfungsbewahrung entfernt hat. Auch fehlt es an der authentischen Wiedergabe der frohen Botschaft als Aufruf zu neuem Vertrauen in das Gefüge der Welt. Inwieweit in unseren Tagen eine buchstabengetreue Bindung an die Auferstehungsgeschichte vermittelbar ist – und ob es tatsächlich ein Beinbruch wäre, wenn wir nicht an ein leibhaftiges, sondern vielmehr an ein symbolisches Geschehen glauben, auch mit dieser Anforderung sollten sich Christen unvoreingenommen beschäftigen dürfen. Ebenso tun sich bei vielen von ihnen Zweifel am Sinn und der Notwendigkeit der Sühnetodtheologie auf. Sollte und musste Christus sterben, um uns von unseren Missetaten zu befreien – und können wir uns deshalb nun als frei von jeder Sünde ansehen? Hat er sich tatsächlich aus freien Stücken hingegeben? Und wie können wir in diesem Zusammenhang die Prophetie über die Erfüllung der Schrift verstehen? Ist Gott tatsächlich allmächtig – und warum greift er nach unserem Empfinden nur selten in das Erdengeschehen ein? Wie macht er sich in unserem Dasein bemerkbar? Wie können wir vom Heiligen Geist beseelt sein? Welche Vorstellungen vom Ewigen Leben sind zulässig? Dürfen wir an der Unbeflecktheit Marias und der Schuldlosigkeit Jesu zweifeln? Weshalb maßen sich die Kirchen an, das Privatleben vom Schlafzimmer bis zum Esstisch mitgestalten zu wollen? Und wäre die Vermittlung von Werten und der Intention christlichen Denkens und Handelns nicht sehr viel wichtiger als der Anspruch zur Maßregelung des Unsittlichen? Wie kann man Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe praktizieren? Was bedeuten die Zehn Gebote für mich konkret? Und wie gehe ich mit dem Zuspruch Gottes um, selbstbestimmt über das Gute und Böse befinden zu können? – Das Christsein bedeutet Freiheit, Verantwortung und Verwirklichung zugleich. Absolutheitsansprüche sind in säkular gehaltenen Staatsformen kaum noch zu rechtfertigen. Die Integrität des Gläubigen steht vor dem Willen einer Religionsgemeinschaft, ihn nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Entsprechend täte es Kirchen gut, sich nicht als der Weinstock aufzuspielen, sondern das Gedeihen der Reben der Wirkkraft Jesu und dem Entwicklungspotenzial der Trauben zu überlassen. Denn sie erlangen ihre Süße nicht durch den Winzer, sondern die Sonne des Herrn.
Weitere Informationen unter www.dennis-riehle.de.
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